Afghanistan – eine Chronik des Versagens
In Afghanistan ereignet sich seit dem überhasteten Abzug der internationalen Truppen eine Tragödie. Vor allem Frauen, Menschenrechtsaktivist*innen, Journalist*innen fürchten um ihr Leben. Sie alle haben berechtigte Angst vor der Rache der Taliban. An diesem Desaster trägt auch die Bundesregierung eine Mitschuld: durch Fehleinschätzungen, bürokratische Schikanen und das monatelange Zögern, afghanische Ortskräfte sowie bedrohte Menschen rechtzeitig aus Afghanistan auszufliegen. Dieses katastrophale Versagen von Union und SPD ist dafür verantwortlich, dass Tausende, denen wir früher hätten helfen können und müssen, im Stich gelassen wurden.
Die Chronik des Versagens:
- Am 9. Juni 2021 antwortete Außenminister Heiko Maas (SPD) auf Fragen der Opposition im Deutschen Bundestag zur Lage in Afghanistan: „All diese Fragen haben ja zur Grundlage, dass in wenigen Wochen die Taliban das Zepter in Afghanistan in der Hand haben werden. Das ist nicht die Grundlage meiner Annahmen.“
- Mitte Juni wollte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) erreichen, dass nicht nur diejenigen Ortskräfte ausreisen dürften, die in den letzten zwei Jahren mit der Bundeswehr zusammengearbeitet haben. Stattdessen sollte die Regelung für alle Ortskräfte ab 2013 gelten. Das Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit unter Gerd Müller (CSU) warnte indes vor einer „Sogwirkung“; auch das Auswärtige Amt sowie das Innenressort lehnten eine Ausweitung des Zeitraums ab.
- Am 22. Juni mussten zwei vom Verteidigungsministerium bereits bestellte Charter-Flüge nach Mazar-e Sharif für die Evakuierung von Bundeswehr-Ortskräften und ihren Familienangehörigen (insgesamt ca. 300 Personen) wegen Verfahrensbedenken hinsichtlich Visa- und Sicherheitsfragen kostenpflichtig storniert werden.
- Am 23. Juni forderte die grüne Bundestagsfraktion die Aufnahme gefährdeter Ortskräfte im Rahmen eines schnellen Gruppenverfahrens. Die Regierungskoalition lehnte unseren Antrag ab.
- Im Juli richtete Bundeswehrhauptmann Marcus Grotian in Kabul mit dem Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte mithilfe von Spenden sogenannte Safe Houses ein, sichere Rückzugshäuser für ehemalige Ortskräfte zum Schutz vor den Taliban. Bereits über Monate hatte Grotian an die Bundesregierung appelliert, ihre Helfer nicht zu „verraten“.
- Am 13. Juli 2021 wandte ich mich gemeinsam mit den menschenrechtspolitischen Sprecher*innen von FDP, SPD und Union in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin und forderte ein rasches und unbürokratisches Verfahren zur Rettung der afghanischen Ortskräfte.
- Auf meine Schriftliche Frage, ob die Bundesregierung mit den USA in Kontakt stehe, um afghanische Ortskräfte mithilfe der US-Luftbrücke auszufliegen, antwortete diese am 5. August, man habe die „Luftbrücke“ „zur Kenntnis genommen“ und Vorkehrungen getroffen, um ehemalige Ortskräfte „im Rahmen der eigenverantwortlichen Ausreise im Bedarfsfall durch Bereitstellen von Flugtickets zu unterstützen“.
- Laut Medienberichten warnte die deutsche Botschafterin in Washington, Emily Haber, am 6. August in einer vertraulichen Note, dass laut Einschätzung der USA zu befürchten sei, die afghanische Armee und die Regierung würden schon während der letzten Phase des Nato-Abzugs zusammenbrechen. Die USA bereiteten sich auf alle Eventualitäten vor und erwarteten, dass auch Deutschland entsprechende Notfallpläne für den „worst case“ vorbereite.
- Nach mehreren kontroversen Krisensitzungen um den 13.August in Berlin wurde eine Evakuierung der deutschen Botschaft für den 16. August ins Auge gefasst. Zugleich gab es nach Medienberichten einen Streit zwischen Auswärtigem Amt und Verteidigungsministerium darüber, ob man Flugzeuge der deutschen Luftwaffe entsenden könne, um Menschen aus Kabul zu evakuieren.
- Am 14. August warnte derweil der Gesandte der deutschen Botschaft in Kabul die Berliner Zentrale per Mail, dass sich die Sicherheitslage durch den überraschend schnellen Rückzug der US-Kräfte weiter verschlechtert habe. Das Botschaftsviertel sei nun unbewacht.
- Am 15.08.2021 vormittags gab es laut Medienberichten noch immer keine Weisung aus dem Auswärtigen Amt zur Evakuierung. Gesandter van Thiel musste offensichtlich auf eigene Faust entscheiden und schrieb „Wir machen uns abmarschbereit! HABEN WIR GRÜNES LICHT?!“ und schließlich: „Wir sind dann erst mal nur noch per Telefon zu erreichen. Wir zerstören die IT. Schönen Sonntag noch, Ende.“
- Am Ende waren es amerikanische Hubschrauber, die die deutschen Botschaftsangehörigen an den Flughafen evakuieren mussten, da ein Durchkommen über die Straßen nicht möglich war. Am Abend des 15. August rückten die Taliban in Kabul ein und besetzen den Präsidentenpalast.
- Am 20. August räumte Maas gegenüber dem Spiegel ein, die Lage falsch eingeschätzt zu haben. Zugleich beschuldigte er die Nachrichtendienste, eine falsche Lageeinschätzung abgegeben zu haben und forderte Konsequenzen für die Arbeitsweise der Dienste.
- Am 30. August verließen die letzten US-Soldat*innen Afghanistan. Während der Evakuierungsmission haben die USA und ihre Verbündeten etwa 122.000 Zivilist*innen außer Landes gebracht.
- Stand 30. August hat die Bundeswehr 4.587 Menschen nach Deutschland geflogen, darunter laut Innenministerium 3.849 Afghan*innen und 403 Deutsche sowie Menschen aus anderen Ländern. Insgesamt sollen 138 deutsche Ortskräfte mit 496 Angehörigen ausgeflogen worden sein.
Mit dem Ende der Luftbrücke verkündete das Auswärtige Amt „Phase 2“ der Evakuierung. Es wurden 3 Kategorien von Schutzbedürftigen eingeführt:
- 1: Deutsche Staatsangehörige
- 2: Afghanische Ortskräfte
- 3: Afghan*innen aus Zivilgesellschaft, Medien, Kultur und Wissenschaft, die die Bundesregierung bis zum Ende der militärischen Evakuierungsaktion als besonders gefährdet identifiziert hat. Hier gilt als Stichtag der 26. August. Personen, die sich erst danach gemeldet haben oder als besonders gefährdet identifiziert wurden, wird eine Aufnahme in Deutschland nicht mehr ermöglicht.
Nach Ende der militärischen Evakuierungsmission befinden sich laut Auswärtigem Amt noch immer mindestens 40.000 Personen in Afghanistan, Ortskräfte und deren Familienangehörige, für die Deutschland verantwortlich ist. Hinzu kommt noch eine hohe vierstellige Zahl von besonders gefährdeten Personen aus Zivilgesellschaft, Medien, Kultur und Wissenschaft, denen eine Ausreise in Aussicht gestellt wurde.
Seit Anfang August haben über 100 Hilfegesuche von Afghan*innen, Familienangehörigen und Unterstützer*innen allein mein Büro erreicht. Das zeigt das Ausmaß der Verzweiflung und Not. Wir haben zunächst alle eingegangenen Einzelfälle an das Auswärtige Amt weitergeleitet. Mit der Ankündigung der Phase 2 des Auswärtigen Amtes wurden wir jedoch gebeten, nur noch Fälle weiterzuleiten, die den oben genannten Kategorien entsprechen. Auch wir bekommen keine Rückmeldung, welche Personen in die Listen der Bundesregierung aufgenommen wurden.
Was fordern wir:
- Oberste Priorität muss weiterhin die Evakuierung schutzbedürftiger Menschen aus Afghanistan haben. Für uns Grüne sind das deutsche Staatsbürger*innen und Personen mit deutschem Aufenthaltstitel. Es sind afghanische Ortskräfte und ihre Angehörigen, genauso wie Menschen, die im Auftrag der EU Unterstützung geleistet haben. Ebenso afghanische Mitarbeiter*innen von Subunternehmern, Hilfsorganisationen, Frauenrechtsorganisationen, Menschenrechtsaktivist*innen, Journalist*innen, die für deutsche Medien gearbeitet haben. Für uns ist es schlicht nicht akzeptabel, dass besonders bedrohte Afghan*innen, die sich erst nach dem 26. August gemeldet haben, nun von einer Aufnahme ausgeschlossen werden.
- Wir dürfen die Menschen in Afghanistan kein zweites Mal im Stich lassen. Mehr als 18 Millionen Menschen in Afghanistan sind auf elementare humanitäre Hilfsgüter wie Wasser und Nahrung angewiesen. Tun wir nichts, werden Millionen Kinder dauerhaften Schaden erleiden. Es fehlt an Unterkünften und Bildungsmöglichkeiten. Die internationale Gemeinschaft muss dringend humanitäre Hilfe leisten – und gleichzeitig dafür sorgen, dass Helfende sicher arbeiten können!
- Die Verantwortung dieser Bundesregierung für das Afghanistan-Desaster muss umfassend aufgearbeitet werden. All die Fehler, Versäumnisse, Verschleppungen und Blockaden müssen ebenso auf den Tisch wie die sich widersprechenden Aussagen der unterschiedlichen Ministerien. Ein Untersuchungsausschuss in der nächsten Legislaturperiode ist unumgänglich.
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